Kolumnen
Die Welt in SchräglageDie Welt in Schräglage
Es heisst zwar nachdenken, aber man sollte es vorher tun. Stattdessen ignorieren wir die Klimakrise, aber streiten über die gesellschaftlichen Folgen des Virus. Die Schweiz hat sich mittlerweile bis in die Familien hinein atomisiert: In Impfgegner mit und ohne Testverweigerung, Geimpfte, Genesene, Hypochondrische und solche mit Long Covid-Symptomen. Die Pandemie als erste wirkliche Herausforderung für eine Gesellschaft, in der sich so viele Leute wie noch nie, so vielfältig wie noch nie ausleben können. Und nun erleben wir, dass das Bundeshaus zum ersten Mal in seiner Geschichte mit Zäunen vor Randalierenden geschützt werden muss.Als gäbe es nicht Initiativen und Referenden. Wo sonst ist der Souverän noch so souverän? Da werden Volksvertretende mit Rasanz zu Unterdrückern. Und das alles wegen eines befristeten Gesetzes. Dabei haben Bundesrat, Parlament und Behörden doch eine steile Lernkurve und virologisches Neuland hinter sich. Warum darf der Staat nicht auch den ein oder anderen Fehler machen? Deshalb wollen Bill Gates und Georges Soros die Menschheit noch lange nicht dezimieren.
Alle liberalen Denker des 19. und 20. Jahrhunderts waren sich einig, dass in Zeiten eines nationalen Notstands – sei es ein Krieg oder eine Pandemie – die Rechte des Einzelnen zugunsten des Allgemeinwohls eingeschränkt werden müssen. Meine Freiheit hört dort auf, wo die des anderen anfängt. Freiheitstreichler und Facebook-Maulhelden hin oder her. Übrigens ist mir staatliche Kontrolle lieber als die von Facebook.
Es gab mal eine Zeit, da waren Impfungen keine ideologische Frage, sondern eine der öffentlichen Gesundheit. Der Staat durfte Krankheiten noch durch Impfung bezwingen, denn ein einig Volk von Helden unterstützte technischen Fortschritt. Nun hat uns dieser so viel Wohlstand beschert, dass wir uns den Luxus gönnen können, der Wissenschaft aus dem Bauch heraus kollektives Irren zu bescheinigen. Da ist es mir lieber, der Staat begründet sein Handeln auf Krankenhauseintritten und nein! nicht etwa an Verstorbenen, die nur angeblich an Covid verstorben sind. Übrigens, wenn der Staat die Wasseraufbereitung überwacht oder seine BürgerInnen in Zügen, Seilbahnen und durch Tunnels transportiert, dann vertrauen wir ihm unser Leben bedenkenlos an. Bei der Impfung aber lieber nicht?
Natürlich sind die Impfstoffe nicht jahrelang in der Phase 3 erprobt worden. Dafür haben auf der ganzen Welt Wissenschaftler*innen erstmals in Echtzeit zusammengearbeitet. Mir ist die kollektive Intelligenz der Besten lieber als isolierte klinische Testreihen eines Unternehmens X. Und warum sollten dieselben Pharmakonzerne, die Aspirin oder die Masern-Impfung erfunden haben, uns jetzt manipulieren wollen? Als Zombies sind wir nix wert. Ich bin jetzt seit einem halben Jahr geimpft und ein Selbsttest sowie permanente Umfeldkontrolle haben ergeben: Ich bin nicht verrückter als früher. Vielleicht ein bisschen schräg, aber das passt bestens zu einer Welt in Schräglage.
Oktober 2021
2023 – Das Jahr aller möglichen Zukünfte
Als ich 1989 ein Fünftel Jahrhundert alt wurde, fiel die Mauer in Deutschland. Das Ende des kalten Kriegs war meine Zukunft. 2023 wird mein Sohn 20 Jahre alt. Seine Zukunft bestimmt die Rückkehr des Krieges in Europa.Januar: Auf dem WEF in Davos ist wenig los, Greta schimpft aus Lützerath, Putin traut sich nicht aus seinem Gefängnis und Xi Jinping hat Angst, dass ihm die Chinesen ausgehen. Lindner und Habeck nutzen die Zeit, um Neo-Bundesrat Röstli schon mal vorzugrillen: Die Schweizer Neutralität ist out und entsprechend kostet energiepolitische Solidarität jeden Tag mehr.
Februar: Abstimmungen werden gern aus taktischen Gründen vertagt, oder man überlässt es dem Souverän, faule Früchte der Parlamentsarbeit mit der Urne zu bestatten. Immerhin wurde nun auch der Schweizer Blackout vertagt – auf den Winter 2023-24.
März: Während die SVP die Zukunft mit der EU schon gekündigt hat, wappnen sich SP und Mitte für alle möglichen Zukünfte – ein Vorgehen, dass die FDP als staatspolitisch heikel bekämpft.
April: Bevor der ausserordentliche Staatsanwalt Marti einen innenpolitischen Flächenbrand durch autistischen Fleiss auslöst, leiht ihn der Bundesrat den USA, um dort die präsidenziellen Akten aufzuräumen.
Mai: Das SVP-Referendum gegen das Klimaschutzgesetz zur Gletscherinitiative wird zurückgezogen. Der Grund: Die Gletscher stellen sich der Kampfwahl gar nicht mehr.
Juni: Die Schweiz steht am Frauenstreiktag still, weil in Spitälern, Kindergärten, Altersheimen, Ämtern, Schulen, Tagesstätten, Arztpraxen, Läden und Büros die Frauen erstmals parteiübergreifend den ganzen Tag chillen (nichts tun).
Juli: Der beliebteste Bundesrat seit Ogi scheitert an seinem jüngsten Skandal, geht bei der Nachprüfung als Pilot in den Sinkflug und wechselt offiziell in die Führungsetage von Ringier.
August: Die Schweizer Städte lancieren mit Jaqueline Badran als Kandidatin eine eigene Bundesratskampagne unter dem Motto: Heidiland war gestern.
September: Die Schweiz bleibt zusammen mit Belarus das einzige europäische Land ohne transparente Parteienfinanzierung: Die Eidgenössische Finanzkontrolle kann die vielen Schlupflöcher, die durch Komitees, Vereine, Stiftungen und Gönner im Wahlkampf entstehen, nicht stopfen und bittet deshalb den Europarat um einen ca. 3jährigen Aufschub.
Oktober: Der Bundesrat begrünt sich zulasten der SVP, weil die Auslandsschweizer:innen zum 1. Mal geschlossen ihr Gewicht in die Urne gelegt haben.
November: Die wenig erfolgreiche Koalition aus Bauern und economiesuisse wird durch eine neue Allianz abgelöst: Gewerkschaften und Gewerbeverband gegen Brüssel.
Dezember: Der Krieg in der Ukraine ist bald 2 Jahre alt. Das Europaparlament fordert per Amtshilfe Staatsanwalt Marti zur Korruptionsbekämpfung an. In den USA hat sich das Problem biologisch gelöst: Hier herrscht nun die erste farbige Präsidentin.
Fazit des satirischen Jahresausblicks 2023: Die Zahl der möglichen Zukünfte ist gross, bleiben Sie entsprechend offen, Ihre Elizabeth Tessier.
Januar 2023
Aufruf zur Opferhilfe
Bürger:innen müssen sich mit immer komplexeren Fragen befassen. Die Folge ist eine zunehmend digitale Bürokratie. Frankreich und Deutschland sind hier Weltmeister: So musste in der Coronazeit eine französische Zollbeamtin die Beratungsstelle für Grenzgängerinnen fragen, welches denn die Bestimmungen ihres eigenen Landes für den Grenzübertritt seien. Der Grund: In den grossen Flächenstaaten hat die Verwaltung ihr Eigenleben entwickelt, ohne die Bürger:innen auf diesen Weg mitzunehmen. Als geschiedene Frau in der Schweiz musste ich mich für eine erkleckliche Summe nochmals in Deutschland scheiden lassen, da beide Staaten noch kein entsprechendes Abkommen über die Anerkennung von Scheidungen hatten. Für Heiraten allerdings schon. Soviel zu den bürokratischen Folgen des gescheiterten Rahmenabkommens.Als ich die neue Grundstücksvermögenssteuerrefom für meinen Vater beantworten musste, weil der deutsche Staat entschieden hatte, diese rein digital durchzuführen, erhielt ich einen verzweifelten Anruf seines Steuerberaters. Er fand es zu Recht unglaublich, dass der Staat Aktenzeichen für die Eingabe produziert, die Bürger aber anschliessend zwingt, diese selbst zu recherchieren, damit sie überhaupt auf das digitale System zugreifen können. Notabene bei Strafe für Nichterfüllung. Mein 95jähriger Vater wurde vor der Digitalisierung pensioniert. Für ihn ist das Eingabesystem ELSTER jedenfalls noch ein Vogel. Ich selbst als Wirtschaftsflüchtling kann ihn nicht fangen, weil ich keine Steuernummer in Deutschland habe. Da dieser Umstand den Staat allerdings nicht davon abhalten wird, mich dennoch zu besteuern, wird es einen bösen Behördenkampf um meine steuerliche Identität geben.
Denn die Behörden schicken ihre Opfer gern auf den schon von Marx beschriebenen Gang durch die Institutionen. Heute sind das Datenbanken von haarsträubender Komplexität. So wird man zur Eingabe von Daten für das Bundesland x auf die Datenbank y verwiesen. Dort angekommen, sieht frau als Erstes eine Meldung, dass die empfohlene Datenquelle nicht geeignet für die Eingabe in die Grundstückvermögenssteuerreform sei, sie sich also bitte um eine Alternative bemühen solle. 30 Jahre Verschweizerung sind nicht spurlos an mir vorübergegangen. Bei Begriffen wie «Einheitswert-Aktenzeichen» stehe ich an. Und telefoniere mich auf der Suche nach der Abgrenzung von Nutzungsziffern quer durch die Republik.
Der Schock kam, als ich das Baugesuch für ein Dachfenster in unserem Schweizer Haus ausfüllen wollte. Hatte ich nicht eben noch dem deutschen Steuerberater von der Schweiz vorgeschwärmt, wo man Bürokratie noch in einem bürgerverträglichen Mass ausgestalte? Nun hielt ich ein vielseitiges Formular in der Hand, auf dem nicht weniger als 24 Anhänge zur Baueingabe stehen und von denen ich lediglich das Wort «Brandschutzpläne» intuitiv erfassen kann. Es ist also soweit: Ich fühle mich akut technokratisch überfordert und beantrage hiermit den Aufbau einer Opferhilfestelle. Ein Schelm, wer nun Böses denkt…
August 2022
Das Uhrwerk im Krisenmodus – eine Stärkenanalyse
Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient. Die COVID-19-Pandemie hat Länder und Menschen ins Chaos gestürzt. Während sie an vielen Orten immer noch wüted, können wir in der Schweiz sagen, wir wurden anständig versorgt.Zwar war der Maskentrick ein Schelmenstück, aber wenn auf Sicht navigiert werden muss, kommt es auch mal zu Notlügen. Natürlich hätte man früher reagieren und auf die Forscher hören müssen, die für uns arbeiten. Genau jetzt macht es sich ja bezahlt, dass Forschung zum Business-Modell der Schweiz gehört. Aber: Die politische Schweiz ist erstaunlich lernfähig. Fehler passieren selten zweimal. Dies können sich vor allem jene Bürgerinnen und Bürger hinter ihre Ohren schreiben, die sich regelmässig von der heimischen Couch aus von der Politik abwenden. Fakt ist, auch wir Bürger*Innen tragen Verantwortung. Wer nicht an die Urne geht, stimmt automatisch mit der Mehrheit. Einer Mehrheit, die er oder sie vielleicht nicht wollte…. Verantwortung beginnt hier.
Testen wir das staatliche Handeln im Pandemieverlauf mal durch: Wir haben das föderalistische Chaos vermieden, mit dem sich deutsche Landesfürsten seit Monaten auf Kosten ihre Schutzbefohlenen profilieren. Wir hatten keine Ausgangssperre. Meine Lieblingsanekdote zum Thema, wie Bürger auf Freiheitsentzug reagieren, kommt aus Rom. In einem dortigen Mietshaus machte ein Hund alle Mieter mit seinem Bellen verrückt. Bis diese entdeckten, dass man mit Hunden 10 Minuten und 200 Meter auf die Strasse darf. Daraufhin wechselten sich alle ab und der Hund wurde dauerausgeführt. Ein Polizist soll sich gewundert haben, dass er einen ähnlichen Hund noch kurz zuvor mit einem anderen Besitzer an derselben Stelle gesehen habe. Der Hund bellt jetzt nicht mehr, vor lauter Angst, er müsse dann raus.
In Helvetien gab es immer wieder auch freiwillige Ordnungshüter, die ihre grosse Stunde zur Durchsetzung der staatlichen Gewalt gekommen sahen. Die Mehrheit hat diesen Schweizer-Machern jedoch rasch ein Ende bereitet. Und Bern war von Anfang an klar, dass es gescheiter ist, den Souverän nicht zu lange an die Notrechtskette zu legen. Deshalb haben sich die Organe auch zurückgehalten, als es nun zu spontanen Demonstrationen wegen des Todes von George Floyd kam.
Während des Notrechts waren immerhin sieben demokratische Grundrechte eingeschränkt: Das Recht auf persönliche Freiheit, die Gleichheit vor dem Recht, die Glaubensfreiheit, der Anspruch auf Grundschulunterricht, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Wirtschaftsfreiheit und die Versammlungsfreiheit. Hätten Sie diese Rechte aufzählen können? Da sehen Sie, wie fragil Demokratie ist. Gerade im Krisenmodus gerät sie extrem rasch unter die Räder.
Meine Bilanz: 1. Einmal angelaufen, funktioniert die Schweiz unverändert wie ein Uhrwerk. 2. Die Gesellschaft als Gemeinschaft geht gestärkt aus der Pandemie hervor. 3. Der Schweizer Sinn für Humor ist weltweit einmalig. Nennen Sie mir eine Nation, in der ein hoher Bundesbeamter in Vollmontur baden geht.
Juni 2020
Der digitale Generationengraben
Die Pandemie hat uns physisch ent-mobilisiert. Digital sind wir dafür umso agiler. Fertig ist das lästige Pendeln über überfüllte Bahnhöfe. Auch das Werweissen, wohin man in Ferien sollte – ob nun endlich mal nach Thailand, die Malediven oder Kreta, so lange es noch zu Europa gehört – alles auf Stopp. Die Zerrissenheiten aus der Prä-Corona-Epoche entfallen. Zudem können wir so tun, als triebe uns nicht die Angst vor dem Virus, sondern das ökologische Gewissen an. Eine «Win-Win-Situation».Keine Win-Win-Situation ist die neuste Digitalisierung bei der Post. Ich war ehedem so stolz auf den gelben Riesen, als er diese gelben Steckkarten brachte. Frau konnte sie an ihren Postkasten klemmen, um zu signalisieren, dass die Postbotin die Versendepost gerade aus dem Kasten mitnehmen könne. Hatte man keine Briefmarken, wurde Geld deponiert, im Kasten landete eine Quittung oder ein Nachzahlungshinweis mit Säckchen fürs Geld. Unsere Postbotin, Frau B. – ein Musterbeispiel für betriebliches Mitdenken – nahm die Post sogar dann mit, wenn Frau Huth vergessen hatte, das Briefmarkengeld dazu zu legen. Unsympathischere Kollegen sorgten in solchen Fällen gerne dafür, dass die Steuerzahlende sich erinnerte, wohin sie eigentlich aus Sicht der Post gehörte: ans untere Ende der Wertschöpfungskette.
Aber: Eine sinnvolle, praxisnahe und vor allem für ALLE Kunden taugliche Lösung aus dem Handwerkskasten des Lean Management. Gerade in Coronazeiten kein ungesundes Schlangestehen und Pendeln hin zu den immer entfernteren Postfilialen.
Diese Ära ist nun zu Ende. Knapp wurden wir informiert, dass die Steckkarten per sofort aus den Postkästen abgezogen würden. Die fantasievolle Begründung: «Der Hausservice wird weiterentwickelt.» Dieselben Postleistungen müssen neu via Smartphone, PC oder Tablet angefordert werden.
Natürlich regnet es nur Vorteile: 1. Sicherheit: Mit der neuen «Lösung» ist nicht mehr länger ersichtlich, dass ich Post im Briefkasten habe.» Aber, wo kein Problem ist, braucht es keine Lösung? Wer würde freiwillig meine Einzahlungsbriefe klauen, Trauerbekundungen oder Bestellformulare?
2. Entlastung für Frau B. Weil meine Info «direkt an ihr Handgerät erfolgt, entfallen in Zukunft unnötige Wege auf der Zustelltour.» Ich wohne in einem dicht besiedelten Quartier, Frau B. muss ihr Auto eh immer an derselben Stelle stoppen?
3. Nachhaltigkeit: «Mit der neuen Lösung auf Abruf setzt die Post Ressourcen gezielter ein, vermeidet Leerfahrten und so CO2-Ausstoss.» Ähm…Elektroautos produzieren gar kein CO2?
Und macht sich der Betrieb, den die älteren Generationen ein ganzes Arbeitsleben lang finanziert haben, auch nur einen Gedanken über den anzahltechnisch grössten und analog-schreibfreudigsten Teil seiner Kundschaft? Fängt er sie irgendwie auf? Nein, vielmehr reisst die Post ebenso wie die Privatwirtschaft den digitalen Graben weiter auf. Weil das Geschäft nicht mehr rentiert, muss der tendenziell ältere Offline-Kunde dran glauben. Wozu braucht man dann noch Staatsbetriebe?
November 2020
Die daten(in)fizierte Gesellschaft
Gehören Sie auch zu den Zeitgenossinnen, die regelmässig Medien nutzen, aber mindestens ebenso häufig auf sie schimpfen? In diesem Fall muss ich Ihnen mitteilen, Sie überschätzen deren Bedeutung erheblich. Es gibt sie nicht, «die Medien». Genauso wenig, wie es in einer atomisierten Gesellschaft wie unserer «die Zielgruppe für Medien gibt». Die Medien, das sind zum grösseren Teil Sie selbst, sofern Sie ein Smartphone haben. Meinungsbildung findet heute mehrheitlich in den sozialen Medien statt. Wie der Name schon sagt, sind sie die virtuelle Dauerverbindung zwischen uns und unserem Umfeld und prägen unsere Meinungen.Deshalb werden die «klassischen» Medien in ihrer Wirkung allzu oft überschätzt. Weil sich die Diskussion eben verlagert, sind sie mit uns auf den sozialen Medien und bringen dort die Einordnungen, die unseren Diskussionen sehr häufig fehlen. Und: Sie bilden ein wichtiges Gegengewicht zu PR: Denn für Journalistinnen gilt immer noch die Anforderung, beide Seiten eines Themas so objektiv wie möglich abzubilden. Zum Geburtstag der ersten Rundfunkanstalt der Welt, der berühmten BBC, wurde das Bonmot herumgereicht, dass, würde eine grosse Gruppe erneut behaupten, die Erde sei flach wie eine Scheibe, die BBC sogar dieser Haltung in einem Beitrag Gehör verschaffen würde.
Umso dankbarer war ich neulich für ein Referat über die Bedeutung des Datenjournalismus. Daten sind heute gesellschaftsrelevant, denn sie helfen genau die Objektivität zu fördern, die ein relevanter Gesellschaftsdiskurs braucht. Oft geht uns «Dauerkommentierern» des Zeitgeschehens nämlich das Augenmass komplett verloren. Das beste Beispiel sind die ewig Entnervten ob der Woke-Bewegun: Sie treibt die Angst um, sie könnten ihre Vorherrschaft über die Gesellschaft verlieren, weil Wokeness gefühlt in Dauerschleife daherkommt. Dabei vergessen die Entnervten, dass es sich statistisch gesehen um wenige Mitbürgende handelt, deren Ansprüche nun halt einfach offen diskutiert werden.
Das sagen uns die Daten und sie werden uns hoffentlich in Zukunft auch den Energieverbrauch aufzeichnen und uns wie die Ansteckungsdaten über Covid helfen, durch die nächste Krise zu navigieren. Daten können Kontext aufzeigen, das Verhältnis Ursache-Wirkung klären und angeblich omnipräsente Gesellschaftsphänomene wieder auf reale Grösse schrumpfen.
Die Folge dieser Entwicklung ist eine historisch einmalige Transparenz: Das beste Mittel gegen Zustände wie im Iran, Russland oder im Mittelalter. Diese Transparenz ist anspruchsvoll. Man muss sie navigieren können. Sonst entstehen Fake News in absurd hohem Ausmass. Data-Literacy, oder die Fähigkeit, Daten lesen zu können wie Buchstaben, wird die neue Herausforderung für unsere Gesellschaft sein und die Journalist*innen der Zukunft müssen Daten interpretieren und herstellen können. Damit die Welt nicht wieder zur Scheibe wird und wir aus der Überforderungsphase herauskommen und uns wieder auf die Entwicklung der Menschheit konzentrieren können.
November 2022
Die nächste Generation
Es ist soweit. P. Huth, 53 Jahre alt, Beraterin und Gemeinderätin, ist unverdient befördert worden. Zur Grossmutter in unserer Patchworkfamilie. Ich könnte mich aus der Affäre ziehen und sagen, ich sei nur «Stief-Grossmutter», aber das ist familienintern keine harte Währung. Und wer würde nicht die schönste Enkelin der Welt haben wollen? Trotzdem bin ich vor der Geburt noch schnell nach Frankreich zu Tochter und Sohn gereist. Aus Egoismus: ich wollte die Kinder noch ein letztes Mal ganz für mich haben – ohne Rassel, Fläschchen und feste Mahlzeiten. Es war mein Abschied aus der alten Rolle.Denn nun ist Zeitenwende angesagt. So ganz gut trainiert bin ich noch nicht, fühle mich irgendwie uncool, wenn ich denke, ich sei doch noch recht jung als Grossmutter. Aber: Enkel sind ein sichtbares Zeichen, dass man zur abtretenden Generation wird.
Von wegen Best Ager, Silver Ager und wie über 50-Jährige auch immer genannt werden. Jeder Arztbesuch sagt mir das Gegenteil: Dann prasselt eine ganze Litanei von altersbedingten Risiken und Vorsorgebedarfen auf mich nieder. Arthrose, Mammografien, Darmkrebs etc. Der Zahnarzt klärt gnadenlos darüber auf, dass Zähnebleichen sinnlos sei, weil die Zähne halt mitaltern und frau dazu stehen müsse. Diäten schlagen nicht mehr an, das Haupthaar versilbert. Verflixt, ich gehöre der Generation an, für die immer alles möglich war. Ich bin auf ein Ende dieser Möglichkeiten schlicht nicht gefasst. Altwerden ist nichts für Feiglinge. Gibt es eine weibliche Form für das Wort «Feigling»? Wenn nicht, überlasse ich den Begriff gern weiter exklusiv den Männern.
Erstaunt beobachte ich, dass die jüngste Elterngeneration, das Kinderzubehörprogramm noch stärker professionalisiert hat als unsereins. Während die neue Mutter selbst als Säugling noch in einem Bastkorb aus der Klinik nach Hause kam, fuhr der Jüngste bereits in einer schnittigen Babyschale. Die Enkelin reist nun rückwärts in einem mitwachsenden Babysitz und mit einem Spiegel über dem Köpfchen, durch den die Eltern sie während der Fahrt beobachten können. Keine Grimassen mehr hinter Mamas Rücken.
Bei den Problemen, die sich jungen Eltern stellen, hat sich dagegen leider wenig geändert: Zu wenige Krippen mit geeigneten Öffnungszeiten, aber Preisen, die das Gehalt der Mutter auffressen werden – und das in Frankreich, dem Mutterland der selbstbestimmten Frau. Daran denke ich als Neo-Oma, wenn ich das Baby bei Laune halte, weil den Eltern die Augen zufallen. Für die nächsten Jahre ist Selbstbestimmtheit passé.
Mir wird klar, was ich als Grossmutter gewinne. Kein Pflichtprogramm, aber die Freiheit, zu kommen und zu gehen, die Freiheit von durchwachten Nächten mit Fieber und Regeldurchsetzung. Die Sorge um die Kleinen sind nun an die nächste Generation abgegeben. Für uns kehrt die Narrenfreiheit der Jugend zurück, Verantwortung gilt nur noch mittelbar. Meine neue Rolle: Die der lustigen Oma, für die Kinderhaben vor allem ein Abenteuer und Regeln durchaus verhandelbar bleiben.
Juni 2022
Digitale Netiquette
Digital betrachtet sind Menschen ab 50 Jahren eine Hybridgeneration: Mein Studium habe ich noch mit Schreibmaschine und Lochkarten-Grossrechnern begonnen. Meine Familie unterhielt noch keine völlig überflüssige Witzehitparade auf WhatsApp. Im Beruf hatte ich nicht das Gefühl, nach jeder Sitzung, oder direkt nach dem Aufstehen das Handy checken zu müssen. Heile Welt war vor den drei Mailkonten, Social Media-Kanälen und virtuellen Chatgruppen. Oder bilden wir uns das nur ein? Wann genau war Früher? Als ich noch mühsam in der Bibliothek Bücher bestellen musste, die mir ein mieslauniger Bibliothekar auch mal vorenthalten konnte und ich ohne eine Sammelausgabe des Brockhaus wissenstechnisch schnell mal auf dem Trockenen sass?Für mich ist der Fall klar: Ich bin gemacht für das Internet und ich liebe mich als Lernmaschine. Nie war es einfacher sich zu bilden als heute, wo frau jederzeit auf das gesamte Wissen der Welt zugreifen kann. Seit man es auch noch beim Staubsaugen oder Kochen hören kann, verschlinge ich bis zu 10 Studien, Leitartikel, Podcasts und Themendokumentationen pro Woche. Meine offizielle Ausrede für dieses abstruse Verhalten? Jeder Wissenschaftler, der nicht irgendwie nerdig ist, hat rasch ausgedient. Man nennt es hochtrabend «Lebenslanges Lernen». Ich bastele gern mit Apps und Tools, Schlauwerden macht Spass. Das Schöne daran: Eine App kann sich in der digitalen Ökonomie nur durchsetzen, wenn sie massentauglich, also anwendungstechnisch idiotensicher gebaut ist.
Im Gegensatz zu meiner besseren Hälfte bin ich aber auf den Social Media ausschliesslich beruflich unterwegs. Fotos von einer Wanderung zu posten ist für mich Zeitverschwendung. Auf Facebook warten Leute jahrelang darauf, dass ich ihre Freundschaftsanfrage annehme. WhatsApp-Chatgruppen können von mir nicht leben.
Mein Lieblingsmensch dagegen hat sich neulich bezogen auf sein Social Media-Verhalten als Luftballon bezeichnet, den man – nicht richtig zugeknotet – loslässt: er schiesst kreuz und quer im Zickzack durch die Social Media-Welt, ist mal hier und dort und dann wieder weg. Gemäss dem Junior ist Papa schon mit Handy-Apps «so was von lost, dass es schon weh tut». Zitatende. Etwa, weil er ein Möbelstück, das er einem Kollegen weiterschicken will, stattdessen in seinem Status postet oder eine Neujahrs-Tanzeinlage mit unseren Gesichtern im Versuchsmodus verschickt. Keine Ansicht ohne komplexe Registrierung. Aus dem Ruder liefen auch schon Geburtstagseinladungen in übergrossen WhatsApp-Gruppen aus denen der Silberrücken ohne Sohnemanns 1. Hilfe nicht wieder herausfand.
Die Moral von der Geschicht? Die analoge Welt war nicht einfach heil und die digitale Welt ist nicht einfach schlecht. Aber gerade wir als Hybridgeneration müssen den sozial-verträglichen Umgang mit ihr erst noch lernen. Deshalb dürfen wir beim Essen unsere Handys nicht mal mehr auf dem Tisch haben. Unser Sohn diagnostizierte akute ADHS-Gefahr und hat seinen Eltern analoge Gespräche ohne Handynutzung verordnet.
März 2022
Eine Ära geht zu Ende
Heute habe ich meine letzte verbliebene Aktie einer gewissen Bank verkauft, die es nicht mehr gibt. Für 18 Franken. Die Gebühren für den Verkauf betrugen exakt 18 Franken. Ausser Spesen nichts gewesen? Fakt ist, dass ich in einer frühen Phase als Mitarbeiterin der Bank die Aktien entgegennehmen musste, als Teil meines flexiblen Lohnanteils. Soweit ich mich erinnere, wurde ich zu dieser Entlohnungsart nicht vernehmlasst. So wurde ich also nach der xten Umstrukturierung der Unternehmenseinheiten stolze Besitzerin von 41 Aktien. Das war zu Beginn der 2000er Jahre, ich glaube nach dem Kauf der Winterthur durch die Bank und der sog. Allfinanzstrategie. Wie wir nun wissen war sie nur der Anfang einer ganzen Serie von Strategiepleiten. Irgendwann stand der Aktienkurs bei 40 Franken pro Aktie und meine Ökonomenkollegen kauften fleissig zu, denn die Aktie konnte ja nur steigen. Mit der beginnenden Finanzkrise 2008 fragte ich meinen Chef – einen allgedienten Banker – was genau passieren würde, wenn eine Bank wie unsere pleite gehen würde. Ich erntete ein mitleidiges Lächeln und die Erklärung, dass eine Grossbank grundsätzlich nicht pleitegehen kann. Ich hatte ihn schon bei meiner Einstellung vorgewarnt, ich sei Politikwissenschafterin und erst in zweiter Instanz Ökonomin, ich würde also die Dinge immer anders betrachten und andere Fragen stellen als die Wirtschaftswissenschaftler um mich herum. Ich verliess sein Büro mit dem Gefühl, eine wirklich dumme Frage gestellt zu haben…Ich finde es ist an der Zeit, dass wir uns erinnern, was der Sinn einer sozialen Marktwirtschaft ist. Das Parteiprogramm der deutschen FDP von 1972 – denn wir reden hier von einem europäischen Problem – formulierte: Die liberale Reform des Kapitalismus erstrebt die Aufhebung der Ungleichgewichte [...] und der Ballung wirtschaftlicher Macht, die aus der Akkumulation von Geld und Besitz und der Konzentration des Eigentums an den Produktionsmitteln in wenigen Händen folgen [...]
Der Text stammt aus dem FDP-Parteiprogramm, nicht aus dem kommunistischen Manifest! 2023 ziehen wir folgende Bilanz: Anspruch nicht erfüllt. Seit ich 2001 in die bewusste Bank eingetreten bin, defilierte eine Reihe von CEO durch die Bank, die Millionengehälter dafür bekamen, dass sie mein Aktienguthaben von seinerzeit immerhin 1269.32 CHF in den folgenden 22 Jahren vernichtet haben. Als Steuerzahlerin musste ich sogar für diese krasse Fehlleistung bürgen. Einen einfachen Angestellten hätte sie direkt in die Arbeitslosigkeit verschoben.
Das Versprechen der sozialen Marktwirtschaft ist kurz zusammengefasst: Die Wirtschaft soll für die Menschen da sein, ihnen ein Auskommen und eine Zukunft ermöglichen, nicht umgekehrt. Unternehmen müssen nicht die besseren Bürger:innen werden, sie brauchen Freiraum, um innovativ und konkurrenzfähig sein zu können. Aber ihr Handeln braucht einen Rahmen, der den Kapitalismus mit Blick auf gesellschaftliche Ziele reguliert, sonst wird unsere Demokratie sehr schnell sehr unsozial.
Juli 2023
ESAF – Wo die Schweiz noch unter sich ist
Ich dachte nach 32 Jahren kenne ich dieses Land. In nicht seltenen Momenten der Selbstüberschätzung meinte ich sogar, die Schweizerinnen besser zu kennen, als meine Original-Landsleute sich selbst. Am ESAF-Wochenende aber wurde ich eines Besseren belehrt. Diese Welt als «urchig» abzutun, wäre banal untertrieben.Beim ESAF war die Schweiz (unter) sich, denn eine Touristenattraktion ist dieser Sport nicht. Zunächst lief alles wie gewohnt: Vor dem Fest knurrten viele Oberbaselbieter, dass ihnen der Kommerz auf die Nerven ginge da unten in Pratteln und die ganze Veranstaltung für d’Schwyz eifach viel zu gross sei. Soweit, so bekannt. Im helvetischen Auenland hat man es nicht so mit der Pracht. Vielmehr schürt jedes Anzeichen von Grossartigkeit Misstrauen. Einzige Ausnahme: Roger Federer. Bei ihm werden die Schweizerinnen zu Pseudoroyalisten.
Erwartungsgemäss setzte srf auf die Konsequenz des Anti-Pracht-Reflexes – die allgegenwärtige Frage: «Was bringt’s?» In diesem Fall eine sinnlose Grafik über den BIP-Anteil, den das letzte ESAF Helvetien als Ganzes und speziell dem Kanton Zug gebracht hat. Der Finanzdirektor dämpfte alle Erwartungen: Das ESAF habe die Zuger Welt nicht verändert.
Begeisterung klingt anders. Die erlebte ich dann endlich vor Ort. Hier gab es die Schweizer*innen, die ihre vielsprachige Gemeinschaft feierten. Die Stimmung war sowohl beim Einmarsch der Regionen erhebend, als auch beim Singen der Nationalhymne. Den Text konnten zwar nur wenig auswendig. Aber es klang viel besser als die englischen Boxkampfschlager vorher. Rocky Balboa passt halt einfach nicht zu Trachten. In die gewandeten sich übrigens auch all jene Würdenträger, die bisher nicht durch Traditionalität aufgefallen sind.
Redet man in Resteuropa von Sport und Spiel, geht’s beim Schwingen an die Arbeit. Es wird nicht gestartet, sondern inenand griffe, wenn die amis des luttes sich an den Hosen packen. Ob man wohl deshalb die zweibeinigen Ambosse immer zuerst mit Nachnamen zuerst und dann den Vornamen nennt? Geben Sie zu, vor lauter Schlungg und Kniestichen ist Ihnen das garantiert nicht aufgefallen.
Auch wenn die Kämpfe öfters mal gestellt enden, ist in dieser Sportart rein gar nichts gestellt. Es sieht archaisch aus und ist dabei hochtechnisch, mit notwendigerweise viel Bodenhaftung, aber nicht aggressiv. Trotzdem fragt sich frau unweigerlich, mit wieviel Verletzungen die Männer zu kämpfen haben und wie lange Mann wohl so einen Sport durchhält. Die Infos hierzu bleiben, im Vergleich zu den Textergüssen von Fussballprofis, rar: Manche Schwingergrössen schweigen auch im Interview fast genauso wie der Siegermuni, über dessen Verletzungsstand man deutlich mehr erfährt.
Am Schluss: Besuch im Gabentempel. Hier habe ich die aktive Kulturvermittlung an die deutsche Verwandtschaft beendet. Wie soll ich erklären, dass bei diesem Sport nicht nur Lebendpreise, sondern sogar WC vergeben werden? Das versteht man wirklich nur unter den Fraue und Manne der Schwingerfamilie.
Oktober 2022
Generationen im Nahkampf
Ich bin 54 Jahre alt, viele meiner Freunde sind deutlich älter. Immer öfter muss ich Gesprächen über die anstehende Pensionierung zuhören, frei nach Jürgens «Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an». Derweil arbeite ich mit Leuten, die gut 20 Jahre jünger sind als ich. Mental stehe ich zwischen den Generationenfronten. Die Demnächst-Pensionäre driften immer häufiger in die gute alte Zeit ab, als sie jung und die Welt noch in Ordnung war. Also nicht woke und durchgegendert, mit gedruckten Medien, Ost-West-Ordnung, wenig Terror, dem Bankgeheimnis und Migrant:innen auf Bestellung.Heute 30jährige politisierten sich in den 2010er Jahren mit Themen wie Digitalisierung, Migrations- und Klimawandel, gefallener Mauer und Zwillingstürmen. Vieles lief gleichzeitig und gefühlt gegen sie. Die Älteren verschanzten sich hinter dem Mantra: «Du bist noch zu jung. Wenn Du älter bist kannst Du qualifiziert mitreden.» Ich erinnere mich, dass mir das genau gleich auf die Nerven ging. Stilbildend die Jahre mit Kohl und Strauss – fad und behäbig, die Institutionen nicht weniger korrupt als heute – nur besser verdeckt. Von der Parteispenden- bis zur Berset-Ringier-Affäre kann heute nicht mehr so viel unter den Teppich gekehrt werden. Taten wir den Altvorderen Unrecht, wenn wir sie kritisierten? Nein.
Mit steigendem Alter neigt man dazu, Neues als schlechte Entwicklung abzulehnen. Aber: Vieles davon geht auf das Konto von uns Älteren. Wir sind noch verantwortlich: Deshalb müssen wir nun durch «MeToo» durch. «Wokeness» ist die Suche der Jüngeren nach wertschätzendem Umgang in einer Gesellschaft, die bunter wird, ob wir das schön finden oder nicht. Viele Menschen kommen hierher, weil ihre Heimat unbewohnbar wird. Daran sind wir nicht unschuldig, in dieser Beziehung waren wir nie neutral.
Eine ganze Generation junger Menschen in all ihren Facetten mal eben kurz auf die Klimakleber zu reduzieren, ist ignorant. Unsere Erfahrungswelt von gestern kann auch nicht zum Mass der Dinge von Morgen werden. Schliesslich hat die «Leistungsgesellschaft» ja erst zum jugendlichen Primat der Work-Life-Balance geführt. Wir haben in den 90ern den Arbeitnehmenden die Verantwortung für ihre eigene Marktfähigkeit auferlegt. Unternehmen und Angestellte gingen ab da nur noch Verträge auf Zeit ein. Damit haben wir aber die Jugend zielgenau auf Solidarität auf Zeit unter Bedingungen trainiert resp. darauf, ihre individuelle Lebensbalance höher zu gewichten.
Wir Alten sind an der Urne eine wachsende Mehrheit. Umso einfacher, in der eigenen Glaubensblase stecken zu bleiben und sich durchs Umfeld bestätigen zu lassen. Wieso sich mit Widersprüchen auseinandersetzen oder gar jenen, die sie ausbaden sollen? Es gibt uns Älteren ja auch nichts zu tun, uns über die sozialen Medien aufzuregen und sie täglich zu nutzen. Wir könnten es den Jungen leichter machen. Schliesslich können wir dankbar sein, dass sie unsere Renten zahlen werden. Weniger Überheblichkeit könnte den Generationendialog wieder ins Lot bringen.
Mai 2023
Gastbeiträge
Syngenta und das Ende der MarktbeherrschungSyngenta und das Ende der Marktbeherrschung
Kürzlich, in der Landi Gelterkinden: Fünf verschiedene Unkrautvertilger stehen zur Wahl. Die Vielfalt ist trotzdem keine: Der Wirkstoff hinter den Marken ist immer der gleiche. Es sind vor allem Bayer und Syngenta, die unsere Bauern versorgen. Branchengigant Monsanto aus den USA hat in der Schweiz keinen Stich. Aber wird es auch so bleiben?Die Frage ist heiss umstritten, offen und – die logische Konsequenz eines Marktes, der längst nicht mehr frei spielt. Im Modell der freien Marktwirtschaft bestimmt der Markt, was in welcher Menge und zu welchem Preis produziert und konsumiert wird. Nicht mehr so bei der Agrochemie: Weltweit ist Syngenta nur noch einer von sechs führenden Konzernen auf einem Markt, der so überschaubar ist, wie die Energie- oder die Automobilbranche.
Syngenta, Weltmarktführerin bei Pestiziden und bis zur Fusion von Dow Chemical und DuPont noch drittgrösste Anbieterin von Saatgut, ist Teil eines sogenannten Angebotsoligopols marktbeherrschender Firmen. Das hat zur Folge, dass die Firmen vor allem damit beschäftigt sind, ihre Positionen gegeneinander abzusichern. Man spricht von strategischer Interdependenz. Deshalb spricht der Syngenta-Chef nun vom Zwang zur Fusion, ein Jahr nachdem die Schweizer Agrochemieperle ankündigte, allein im Markt bestehen zu wollen. Sollte gar ChemChina, der chinesische Player im Agrochemie-Markt, Syngenta übernehmen, wäre das neue Unternehmen schlagartig gleich stark wie Monsanto, der grössten Hersteller von gentechnisch modifiziertem Saatgut.
Im Oligopol geht das Rennen nicht um gesellschaftlich Wünschenswertes, sondern um Margen und grosse Absatzmärkte. China ist ein solcher; die Bevölkerung wächst und sie muss ernährt werden. Rein ökonomisch betrachtet birgt also eine Heirat mit den Chinesen für Syngenta durchaus Vorteile. Die Schweiz hat als Absatzmarkt nicht die gleiche Attraktivität wie China oder die USA. Deshalb kann sie auf dieser global gespielten „Reise nach Jerusalem“ potenziell verlieren. Bayer und Syngenta werden in der Schweiz zwar weiterhin Pflanzenschutzmittel anbieten, aber vielleicht immer weniger die, die wir brauchen oder wollen. Denn in einem Oligopol rutschen die Kunden aus dem Fokus. Viel wichtiger ist, was Aktionäre und Konkurrenz machen.
Das kann im Baselbiet im wahrsten Sinne des Wortes ans Eingemachte gehen. Etwa bei der Bekämpfung der Kirschessigfliege. Sie macht unseren Kirschbäumen den Garaus, aber die Agrochemiekonzerne liefern kein wirksames Mittel dagegen. Gemäss dem Bauernverband beider Basel ist es deshalb gut möglich, dass wir irgendwann keine Hochstammkirschbäume mehr haben werden. Erfüllen solche Anbieterkonzentrationen mit Blick auf die Nahrungsvielfalt, die Sortendiversität und die gesellschaftspolitisch hoch relevante Frage der Ernährungssicherheit denn überhaupt unsere gesellschaftspolitischen Ansprüche?
Die Antwort ist wohl eher: nein. Müssen sie bislang aber auch nicht. Denn ein international tätiges börsenkotiertes Unternehmen erfüllt in erster Linie die Erwartungen seiner Aktionäre.
Die Shareholder sind wichtiger als das Umfeld, die Stakeholder. Und weil die Umsatz- und Gewinnerwartungen der Aktionäre in der kurzen Frist sehr hoch sind, droht Syngenta nach der Fusionsankündigung von Dow Chemical und DuPont den Anschluss zu verlieren.
Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich warnt vor dieser Entwicklung. Er findet es an der Zeit, die „Sachzwangrhetorik des Marktes“ kritisch zu analysieren: Der Markt sei kein Selbstzweck. Er sei vielmehr das beste, vom freien Menschen und für den freien Menschen erdachte Wirtschaftsmodell und solle diesem dienen und nicht umgekehrt. Ulrich empfiehlt deshalb etwa weltweite Standards, die die Wirtschaft vermehrt an übergeordnete gesellschaftspolitische Ziele binden, wie etwa die Verantwortung für die Umwelt. Warum nicht auch die Ernährungssicherheit? Laut Ulrich sollten Wirtschaftslenker daran gemessen werden, ob sie Entscheidungen fällen, die sie als Bürger genauso vertreten können.
Übertragen auf die Anbieterkonzentration im Agrochemiemarkt könnte man beispielsweise länderübergreifend darauf abzielen, Angebotsoligopole zu vermeiden. Damit sich die Unternehmen wieder mehr am Kunden und seinen wirklichen Bedürfnissen orientieren. Und nicht nur dafür sorgen, dass in China niemand hungern muss, sondern auch die Kirschbäume vor der Essigfliege geschützt werden.
Januar 2016
Was die Innovationsfördrung von der Standortförderung unterscheidet
«Die moderne Welt ist ein Resultat der Innovationen, nicht der Investitionen.» sagt die Wirtschaftshistorikerin Deidre McCloskey. Die Realität in Allschwil sieht anders aus – zumindest auf den ersten Blick. Hier wird investiert. In den Innovationspark Nordwestschweiz. Er ist einer von mehreren Netzwerkstandorten des gesamtschweizerischen Innovationsparks, den die kantonalen Volkwirtschaftsdirektoren, Bundesrat Schneider-Ammann und das Parlament 2015 aus der Taufe gehoben haben.Die beiden Basel und der Jura haben unter Federführung der Handelskammer mit den ehemaligen Actelion-Labors auf dem Bachgrabenareal einen Initialort im Zentrum des Basler Life Science Clusters gefunden: Forschungsgruppen aus internationalen Grossunternehmen, KMU, Start-ups und Spin-offs können mit Gruppen aus Hochschulen und privaten Forschungsinstituten zusammenarbeiten und sich vernetzen. So entsteht in einer hochdifferenzierten Volkswirtschaft wertschöpfungsstarkes Wissen. Es ist das Wissen, das uns einen Wettbewerbsvorteil verschafft und Unternehmen anzieht. Cluster sind nämlich nichts anderes als die räumliche Verdichtung von Firmen und Forschungseinrichtungen aus unterschiedlichen Sparten, aber mit einem fachlich gleichgerichteten Interesse.
Die physische Nähe und der reale Austausch spielen dabei eine weitaus grössere Rolle, als die Echtzeit-Technologien suggerieren. Für Harvard-Ökonom Michael E. Porter erklären sie, warum die Cluster trotz Globalisierung an Bedeutung zugelegt haben. Wachstum und Bestand eines Clusters hängen davon ab, wieviel zukünftiges Innovationspotenzial ihm attestiert wird. Ein solches Cluster in seiner Innovationsdynamik zu unterstützen, ist also anspruchsvoll.
Wer fördert, fehlt schon fast automatisch. Zum Innovationspark wurden Stimmen laut, die sich darüber ärgern, dass nicht stattdessen mehr in die Bildung investiert werde. Andere halten es für sinnlos, Immobilien ohne Startkapital zur Verfügung zu stellen. Für Dritte fehlen die richtigen Arbeitskräfte, wenn wir uns gleichzeitig gegenüber dem Ausland abriegeln, siehe Masseneinwanderungsinitiative.
Wie also investiert man richtig in Innovation? An welchen Kriterien sollte der Innovationspark gemessen werden?
1. Innovationsförderung ist nicht dasselbe wie Standortpflege oder -förderung. Im Vordergrund der Standortpflege stehen gute wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen. Dazu gehört die Sicherung einer hohen Bildungsqualität ebenso, wie z.B. die Unternehmenssteuerreform III und ein gutes Arbeitskräfteangebot. Zur Standortpflege gehört auch, die Folgen von innovationsgetriebenem Strukturwandel aufzufangen: Ein Cluster zieht z.B. geeignete (zukünftige) Arbeitskräfte an. Das fördert die relative Wohnungsknappheit am Standort Basel oder die Verkehrsüberlastung. Es müssen neue Lösungen gefunden werden. Die Standortförderung macht Firmen auf Clustervorteile aufmerksam und unterstützt sie konkret bei der Ansiedlung. Aufgrund dieser Faktoren entsteht aber noch kein hochinnovatives Cluster.
2. Der Innovationspark vereint Firmen aus Pharmawissenschaften, Medizin und Pflanzenwissenschaften mit Technologien wie IT, Sensorik und Messtechnik. Er unterstützt die spezifische Ansiedlungs- und Kooperationsdynamik des Clusters, ohne es in eine bestimmte Bahn zu lenken. Sonst wäre es Industriepolitik. Innovationsförderung versucht auch nicht, Arbeitsplätze und Strukturen zu erhalten, sondern optimiert die Rahmenbedingungen für neues Wachstum.
3. Innovationsförderung ist ergebnisoffen. Das Ziel ist, den technischen Fortschritt auf Unternehmensebene zu beschleunigen, entweder durch neue Produktionsverfahren oder neue Produkte. Deshalb ist Innovationsförderung so schwer vermittelbar. Weil z.B. Ergebnisse schlecht messbar werden, wenn sie nicht als konkretes Produkt auf den Markt kommen.
Umso weniger kann eine wertschöpfungsstarke Region es sich leisten, Innovation nicht zu fördern. Die Exportleistung des Life-Science Standorts Basel ist zwar unbestritten, aber andere Regionen ziehen nach. Zudem sind Cluster bewegliche Netzwerke. Sie verlagern sich, wenn die Innovationsdynamik nachlässt. Ewigen Skeptikern der Innovationsförderung hält Deidre McCloskey den Spiegel vor: Geschichtlich ist jeweils die gesellschaftliche Wertschätzung entscheidend gewesen, die man den Innovatoren, den Erfindern und Unternehmensgründern, entgegengebracht hat. Sie fängt bei der Unterstützung von Investitionen in Innovation an.
Februar 2016
Basel-Nord oder Weil? 2 Terminals aus vier ökonomische Perspektiven
Basel Nord oder Weil? Zwei Terminals aus vier ökonomischen Sichtweisen"Ökonomie ist das einzige Feld, in dem zwei Leute den Nobelpreis dafür kriegen können, dass sie genau das Gegenteil über eine Sache behaupten", befand 2013 der amerikanische Ökonom Paul Krugman pikanterweise selbst Nobelpreisträger. Und fast nirgends scheiden sich die Geister so sehr wie in der Wirtschaftspolitik. Dafür ist das Hafenprojekt Basel Nord ein Paradebeispiel.
Weil Rotterdam und Antwerpen ihre Containerterminals grossräumig ausbauen, wird der Verkehr auf dem Rhein zunehmen. Wollen die Schweizerischen Rheinhäfen (SRH) rund um Basel als grösster Güterumschlagplatz der Schweiz nicht zum Flaschenhals werden, sind Investitionen gefragt. Grund und Boden der Rheinhäfen gehören den beiden Basler Kantonen, die Rheinhäfen verantworten die Infrastruktur, den Warenumschlag besorgen öffentlich-rechtliche Baurechtsnehmer. Geplant ist nun in Kleinhüningen ein drittes Hafenbecken mit einem trimodalen Containerterminal: 200 000 Container können auf Schiene, Strasse und Wasser umgeschlagen werden, der Lastwagenverkehr soll über die Schiene entlastet werden. Dieser direkte Verlad vom Wasser aus ist nur an wenigen Orten möglich.
Für die Ausführung des Terminalprojekts mit dem Namen «Gateway Basel Nord» haben sich die drei Logistik- und Transportunternehmen SBB Cargo, die Rhenus-Tochter Contargo und Hupac 2015 zu einer Planungsgesellschaft zusammengeschlossen und jüngst ein Fördergesuch beim Bundesamt für Verkehr eingereicht. Nicht mehr mit von der Partie sind dagegen die privaten Unternehmen Swissterminal, Ultra-Brag und Danser. Sie planen einen kostengünstigeren Terminal in Weil und bewerben sich ebenfalls um Bundessubventionen.
Ein liberaler Ökonom freut sich zwar über die Konkurrenz durch das private Engagement. Der Schönheitsfehler: Zwei Anbieter sind kein Markt, auf dem sich Angebot und Nachfrage einpendeln können. Vor allem aber stört den liberalen Ökonomen, dass die SBB Cargo eine hundertprozentige Tochter der SBB ist, die wiederum dem Bund als Alleinaktionär gehört. Federführend im Planungskonsortium bewirbt sich also, salopp ausgedrückt, ein Bundesbetrieb um Bundessubventionen. Die Gefahr besteht, dass mit Hilfe dieser Unterstützung Überkapazitäten aufgebaut werden; das Angebot also die Nachfrage übersteigt. Das geht dann auf Kosten des Steuerzahlers. Ausserdem ist die SBB Cargo gleichzeitig im Verladegeschäft engagiert, hat also eventuell Interesse, die private Konkurrenz zu benachteiligen.
Der linke Ökonom findet Konsortien unter aktiver Regie staatsnaher Unternehmen weniger gefährlich, im Gegenteil: sie erweitern die Handlungsfähigkeit des Staates sinnvoll. Für ihn braucht es einen starken, also vorausschauenden Staat, der die Marktaktivitäten ordnet oder dort aktiv eingreift, wo gar kein Markt entstehen kann. Aus dieser Optik kann das private Konkurrenzprojekt in Weil zum Ärgernis werden, weil es das Ertragspotenzial von Basel Nord reduziert. Denn für ihn muss die Verteilung stimmen: Wieviel wird von den eingesetzten Steuergeldern des Kantons letztlich als Ertrag an Staat und Steuerzahler zurück fliessen? Schliesslich soll die Gesellschaft nicht einfach Investitionen zugunsten international tätiger Firmen bezahlen.
Der konservative Ökonom schliesslich favorisiert zwar auch den Wettbewerb und zieht privatwirtschaftliche Lösungen vor. Er stört sich aber am Projekt Weil, weil die Wertschöpfung nicht der eigenen Volkswirtschaft zu Gute kommt. Er steckt im Dilemma, denn es sind Schweizer Unternehmen, die den eigenen Standort links liegen lassen. Er plädiert eher dafür, das Bundesgeld Basel-Nord zu geben.
In dieser imaginären Runde idealtypischer Ökonomen ergreift schliesslich der Umweltökonom das Wort. Er stört sich an der Weiler Umsetzung, denn die steigenden Gütermengen würden vor allem auf die Strasse umgeladen. Sie kommen via eigenen Autobahnanschluss über Rheinfelden in die Schweiz. Zwar ist auch für Weil eine Schienenverlängerung möglich, eine integrierte Bahnverladlösung wie in Basel Nord ist für dieses Betreibergremium aus Kostengründen aber nicht prioritär. Für den Umweltökonomen ist also Basel Nord die nachhaltigere Lösung, wenn das Manövrieren in dem für manche zu engen Hafenbecken nicht noch zur Umweltfalle wird. Auch hier ist klar, wohin die Fördergelder fliessen sollten.
Ob gleich lange Spiesse im Wettbewerb, Umweltbelastung, gesellschaftlicher Nutzen oder volkswirtschaftliche Wertschöpfung. Basel Nord zeigt, einfache Lösungen gibt es nur in der Theorie, selten in der Praxis.
März 2016
Grenzüberschreitungen oder wenn der Strom den Besitzer wechselt
„Wenn die Behörden nicht proaktiv informieren, werde ich hellhörig. Das deutet auf ein Problem hin», befand der Baselbieter SP-Ständerat Claude Janiak zum Störfall im AKW Fessenheim. Wir werden wohl nie erfahren, wie knapp wir am 9. April 2014 an einem Gau vorbeigeschlittert sind. Eins steht fest, die Kosten für die Evakuierung und Sanierung des Dreiländerecks wären ins Unermessliche gestiegen, die wirtschaftlichen Grundlagen der Region mit ihrer Landwirtschaft, dem Weinbau und dem Tourismus hätten zur Disposition gestanden.AKW stehen nicht mehr hoch im Kurs. Ihre Besitzer haben versäumt, sich rechtzeitig auf eine Marktsituation einzustellen, die durch neue Besitzverhältnisse und neue Technologien geprägt wird. Die Stromversorgung ist mit Axpo, Alpiq, BKW, CKW, Repower und EOS auf sechs Unternehmen aufgeteilt, die den grössten Teil des Marktes über ihre Aktionäre (lokale Energieversorger, Kantone und Gemeinden) abdecken. Daneben produzieren eine Menge Kleinstproduzenten Strom zum Beispiel über Solarzellen auf dem Dach. „Basel erneuerbar“ liegt voll im Trend. Doch Strom ist kein Gut wie andere: Man kann ihn zwar produzieren, aber nicht selbst handeln, man ist technisch abhängig von den Stromnetzkapazitäten, Vorratshaltung ist ausgeschlossen.
Deutschland fördert die erneuerbaren Energien und produziert deshalb viel Strom, denn es dann exportiert. Damit kann das Land den europäischen Stromgrosshandelspreis senken. Dieser ist so stark gesunken, dass er unter den Produktionskosten für Schweizer Strom liegt. Früher gab es 12 Rappen, heute liegt der Strompreis unter 3 Rappen pro Kilowattstunde. Auf der Nachfrageseite reduziert gleichzeitig die schleppende Konjunktur den Hunger nach Energie.
Diese komplexe Marktsituation wird durch staatliche Eingriffe beeinflusst, mit denen die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energiequellen gefördert oder die Wasserkraft subventioniert wird. Lenkende Markteingriffe gehören zum Repertoire der Wirtschaftspolitik. In der Energiepolitik fördern sie Anreize für gesellschaftlich anzustrebende Ziele und gestalten gleichzeitig die Folgen für die Verlierer erträglich.
Neue Investitionen in AKW werden durch diese Entwicklungen unattraktiv. Dennoch kosten sowohl der Weiterbetrieb als auch die Stilllegung der Atomkraftwerke weiter. Die Abschaltung von Fessenheim wird regelmässig vertagt. In der Schweiz hat sich der Nationalrat gerade gegen erhöhte Sicherheitsanforderungen für ältere AKW entschieden. Die nationale Atomaufsichtsbehörde ENSI befürchtet deshalb, – dass sich AKW-Betreiber in Zukunft aufgrund ihrer prekären finanziellen Situation weigern könnten, Sicherheitsanforderungen rechtzeitig umzusetzen. Die Gefahr, dass AKW nun bis zur Auslegungsgrenze betrieben werden, steigt. Auch das ist Wirtschaftspolitik: Hätte es in Fessenheim einen Verlauf wie in Fukushima gegeben, wären auf den französischen Staat Kosten von 471,054 Mrd. Dollar zugekommen.
Weglenken macht also Sinn – selbst ohne konsequenten Abschaltplan. Allerdings ist die Schweiz als kleines Land und Stromhändlerin in der Wirkung ihrer Anreize immer abhängig von der Energiepolitik ihrer Nachbarstaaten. Deshalb, und weil atomare Störfälle im wahrsten Sinne des Wortes keine Grenzen kennen, sollte die Strompolitik grenzüberschreitend, nämlich europäisch koordiniert werden. Eine grenzüberschreitende Regulierung könnte zum Beispiel verhindern, dass sich die Stromanbieter globalisieren, während die Betroffenheiten national bleiben. Aktuelles Beispiel: Die angeschlagene Alpiq gehört zu 25 Prozent der Electricité de France (EDF). Jener Betreiberin von Fessenheim, die ausschliesslich die französischen Behörden über den Störfall informierte. Dieselbe EDF interessiert sich neuerdings für den Kauf der Alpiq-Wasserkraft…
Weniger preisverzerrende Anreize im Strommarkt erreicht man über die Internalisierung der externen Kosten. Jener Kosten also, die die Allgemeinheit und nicht der Verursacher tragen muss. Dazu gehören neben dem CO2-Ausstoss auch die Schadenkosten im Falle eines Atomunfalls. Die Kosten für Stilllegung und Rückbau von Anlagen, nicht nur der Kernkraft, müssten ebenfalls in den Strompreis einfliessen. Zudem muss ausgeschlossen werden, dass die Differenz zwischen der Versicherungssumme und dem effektivem Schaden durch den Staat gedeckt werden muss. Sonst hat wieder einmal der Steuerzahler das Nachsehen. Er würde zum Rettungsanker für wirtschaftspolitisches Versagen unter dem Motto "Too big to fail".
April 2016
"It's the economy stupid" über das Baselbieter Sparprogramm
Gesellschaftliche Eigenständigkeit ohne finanzpolitische SondereffekteAn vielen Autos sieht man noch die Aufkleber „Baselland bleibt eigenständig“. Von links bis rechts wurden die Fronten geschlossen, gegen eine Fusion mit Basel. Um gleich darauf von der Realität eingeholt zu werden. Der 80-Millionen-Deal markierte die desolate Finanzlage des Baselbiets, aber auch das schweizweit einzigartige Flechtwerk aus hundert Verträgen, die die beiden Halbkantone durch Rechte und Pflichten verbinden.
Mancher wundert sich nun, dass die Staatsrechnung 2015 deutlich besser ausfiel, als es die erbitterten Auseinandersetzungen im Landrat vermuten liessen. Es hat mit der magischen Wirkung von Sondereffekten zu tun. Zwei Drittel des Reingewinns der Nationalbank stehen den Kantonen zu und 2015 zahlte diese für einmal gerade doppelt aus. 2015 wurden zudem nicht genutzte Grundstücke vom Verwaltungs- in Finanzvermögen umgewidmet und mehrere verkauft. Eine buchhalterische Massnahme, die sich nicht beliebig verlängern lässt. Eher ein Überraschungseffekt ist wohl, dass die Baselbieter eine höhere Zahlungsmoral bei den Steuern aufwiesen, als von der Regierung geschätzt. Immerhin eine Differenz von 20 Millionen Franken. Die Erbschaft einer Einzelperson sorgte schließlich dafür, dass die Erbschafts- und Schenkungssteuern das Budget um 31,4 Millionen Franken übertrafen. Finanzpolitisches Ostern vor Ostern.
Nein. Das Baselbiet muss trotzdem sparen. Der Kanton kommt bei den Standortattraktivitätsfaktoren meistens nicht über das gutschweizerische Mittel hinaus. Wie in allen anderen Kantonen auch, steigen die Ausgaben für die grössten Posten „Bildung und Erziehung“, „soziale Sicherheit“ und „Gesundheit“ jedes Jahr zuverlässig. Der Baselbieter Einnahmenanteil aus Unternehmenssteuern ist mit 13 Prozent gering. Basel-Stadt finanziert sich dagegen überproportional stark durch Unternehmen. Zwar stellt die Pharmaindustrie ein Klumpenrisiko dar, aber die Stadt kann deshalb z.B. die Steuern für den Mittelstand senken. Eine Konkurrenz für den Landkanton, der vor allem von der Besteuerung seiner Einwohner lebt und in dem die Zahl der Erwerbstätigen im Verhältnis zu den Rentnern sinkt. Für den Staatshaushalt bedeutet das: Weniger Nettozahler, mehr Nettoempfänger. Die Folge: Nettoschulden von ca. 10‘000 Franken pro Einwohner. Verschuldung erschwert die Kreditaufnahme und wirkt schlecht auf Firmenansiedlungen. Schliesslich spielt bei öffentlichen Haushalten auch die Generationenfrage mit: Unsere heute gemachten Schulden müssen unsere Kinder und Enkel abarbeiten.
Weil in Sachen Sparen vor allem die symmetrischen Ausgabenkürzungen im Vordergrund stehen, kommt in der öffentlichen Wahrnehmung ein Plan der Finanzverwaltung zu kurz: Der Ersatz der geltenden Defizit- durch eine Schuldenbremse. Die geltende Abschreckung „Defizit gleich mehr Steuern“ soll nämlich durch ein Regelwerk ersetzt werden, das wachsende Schulden ebenso verhindern kann, wie steigende Steuern: Über die Schuldenbremse wird die Erfolgsrechnung des Kantons im Rahmen von acht Jahren mittelfristig ausgeglichen. Einnahmen und Ausgaben werden gekoppelt. Verbunden wird dieser Mechanismus mit der Bedingung, dass das Eigenkapital des Kantons mindestens vier Prozent von dessen Gesamtaufwand nicht unterschreiten darf. Damit wird die Kostenentwicklung plafoniert: Eine Unterschreitung muss innert 5 Jahren kompensiert werden. Die Bindung des Investitionsvolumens an die Schuldenbremse und die Einbindung der Pensionskassensanierung durch eine eigene Amortisationsregelung verhindern ausserdem eine Neuverschuldung etwa durch Investitionen oder Sonderausgaben.
Die Schuldenbremse ist ein attraktives Instrument. Sie erweitert den finanzpolitischen Handlungsspielraum des Kantons. Der Gesetzgeber kann auf unvorhergesehene konjunkturelle Ereignisse oder negative Sondereffekte über mehrere Jahre hinweg reagieren, ohne die Generationengerechtigkeit aufs Spiel zu setzen. Steuererhöhungen können eher vermieden werden. Die Planungssicherheit für die Unternehmen steigt.
Im Kantonsranking des Think Tanks Avenir Suisse ist Baselland bereits heute der grösste Gewinner. Der Index misst die ökonomische Freiheit in den Kantonen. Baselland kommt für einmal vor Basel-Stadt schweizweit auf Platz fünf. Ökonomische Freiheit für Unternehmen ist ohne finanzielle Unabhängigkeit nicht zu gewährleisten. Deshalb ist es gut, dass seit 2013 die finanzpolitischen Zeichen im Baselbiet auf Besserung stehen. Denn schliesslich hängt auch die viel beschworene gesellschaftliche Eigenständigkeit des Baselbiets davon ab.
April 2016
"It's the economy stupid – Begrenzungen sind nichts für die Region
Seit die Schweiz zu den führenden Industrienationen gehört, dominieren die Begriffe „Zuwanderung“ und „Fachkräftemangel“ die wirtschaftspolitische Diskussion. Die Wirtschaft will Fachkräfte, aber wer darf in die Schweiz kommen und unter welchen Bedingungen?Durch die Masseinwanderungsinitiative wurde das Thema endgültig aus dem ökonomischen in den politischen Kontext verschoben. Nun verdrängt die Frage der gesellschaftlichen Verträglichkeit alle anderen Aspekte der Zuwanderung. Dabei haben zuwandernde Arbeitskräfte gerade in unserer Region das inländische Arbeitskräfteangebot immer entscheidend ergänzt.
Jeder dritte Exportfranken der Schweizer Industrie wird von der Pharmabranche erwirtschaftet. Mit einem realen Wertschöpfungswachstum von durchschnittlich 9.4 Prozent pro Jahr trug sie in den letzten zwei Dekaden massiv zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum bei. Unsere Wirtschaftsregion erstreckt sich über eine Fläche von 2,5 Prozent der Gesamtschweiz – dank der Pharma steuert sie rund zehn Prozent zum schweizerischen Bruttoinlandprodukt bei. Das BIP-Wachstum der Region für 2016 soll denn auch deutlich höher ausfallen als im Schweizer Durchschnitt.
Seit dem Jahr 2015 sind aber die Kontingente für ArbeitnehmerInnen aus Drittstaaten in Basel-Stadt jeweils bereits im Februar ausgeschöpft. Kein Wunder, Basel-Stadt stehen pro Jahr noch 84 Kurzaufenthalter- und 52 Aufenthaltsbewilligungen für Personen aus Drittstaaten zu, Baselland 63 respektive 39 Bewilligungen. Dies reichen schon seit Jahren nicht aus, weshalb Basel regelmässig vom Bund 400 bis 500 B-Bewilligungen zusätzlich erteilt bekommt. Das Siebenfache des offiziellen Kontingents!
Genau das könnte in Zukunft schwieriger werden, denn der Bundesrat kürzte die schweizweite Anzahl Bewilligungen für Drittstaatler als erste Massnahme zur Erfüllung der Masseneinwanderungsinitiative von insgesamt 8500 auf 6500 Bewilligungen. Anlass für eine Resolution der FDP-Fraktion im grossen Rat, solche Kürzungen könnten die Standortförderung zunichtemachen. Auch der Public-Affairs-Leiter bei Novartis will sich in Zukunft nicht auf das Bundeskontingent verlassen müssen.
Denn wir brauchen vor allem eins: passende Spezialisten. Dabei hat uns die verpolitisierte Diskussion vergessen lassen, dass die Zuwanderung sich stets der Nachfrage angepasst hat. Waren in den 60er Jahren noch niedrig qualifizierte Handwerker für den Bau gefragt, schreibt Novartis heute Stellen für Onkologen, Biotechniker, Pharmakologen, Statistiker, Produktspezialisten und Informatiker aus. Die viel beschworene Fachkräfteinitiative kann diese Lücke im inländischen Angebot nicht wirklich schliessen. Schweizer Hochschulen können die von Pharma- und Biotechnologiefirmen benötigten Qualifikationen nicht in ausreichender Zahl hervorbringen. Ältere Fachkräfte haben nicht mehr die nötigen Qualifikationen und die Teilzeit arbeitenden Frauen lassen sich auch nicht gerne weg vom familienverträglichen Arbeitspensum in einen 120-Prozent Job als Onkologin hieven. Kurz: die kritische Masse, die der wertschöpfungsintensive Teil unserer Wirtschaft für eine gesicherte Wachstumsperspektive braucht, lässt sich inländisch kaum generieren.
Deshalb stärkt die Zuwanderung den hiesigen Arbeitsmarkt strukturell. Sie bewirkt, dass sich das Angebot entlang der Nachfrage ausweitet. Ist dies nicht mehr länger der Fall, weil einer offenen Zuwanderung durch Kontingente ein Riegel geschoben wird, dann wird dieser Standortvorteil vergeben. Schliesslich ersparen uns 35‘000 Arbeitskräfte das Zuwandern ganz und kommen nur zum Arbeiten in die Region. Sie belasten weder unsere Sozialwerke noch erzeugen sie Dichtstress.
Ökonomisch gesehen begrenzt die Kontingentierung der Spezialisten aus Drittstaaten unser Wachstumspotenzial von Morgen. Eine allfällige Kontingentierung der Grenzgänger untergräbt dagegen unsere Wohlstandsbasis schon heute. Bunderätin Sommaruga sagte wörtlich, die Regierung habe mit dem Entscheid zur Begrenzung der Drittstaaten-Kontingente „im Spannungsfeld zwischen Zuwanderungsskepsis und den Bedürfnissen der Wirtschaft entschieden“. Der Preis für die Politisierung der Zuwanderung ist hoch. Kontingente erodieren den Standortvorteil des durchlässigen Arbeitsmarktes und verursachen allein schon durch den bürokratischen Aufwand volkswirtschaftliche Kosten. Für die Grenzgänger sind sie gar keine Lösung, denn die sind für unsere Region eher Teil der Lösung als Teil des Problems.
Mai 2016
"Its the economy stupid über steuerpolitische Ausnahmen: Der Eigenmietwert ohne Mehrwert
Steuern sind zwar ein alljährliches Ärgernis für den Bürger. Sie dienen aber dazu, die Ziele der Gesellschaft zu finanzieren. Das Steuersystem sollte deshalb die Staatseinnahmen effizient sichern und die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gewährleisten. Aus Sicht der reinen Ökonomenlehre sollte es möglichst einfach ausgestaltet sein und so wenig Ausnahmen wie möglich zulassen. Denn die Ausnahmen verringern die Wirkung der jeweiligen Steuer.Die Realität sieht anders aus. Hier sorgt eine Vielfalt von Steuerfreibeträgen, Ausnahmen und Abzügen für Unübersichtlichkeit. Bestens dokumentiert dies die aktuelle Auseinandersetzung über den Eigenmietwert in Basel-Stadt. Der Eigenmietwert ist ein Schweizer Spezialkonstrukt. Die Steuergesetzgebung sieht vor, dass nicht nur Einkommen in Form von Löhnen oder Zinsen versteuert werden, sondern auch der Nutzen, den jemand aus seinem Eigentum zieht. Aus Sicht der Steuerverwaltung generiert der Eigenheimbesitzer diesen, weil er sein Haus oder sein Stockwerkeigentum sozusagen an sich selbst vermietet. Die fiktiven Einnahmen werden als Einkommen besteuert – als Eigenmietwert. Im Gegenzug kann aber der Eigentümer die Hypothekarschulden, sowie Kosten für den Gebäudeunterhalt vom Einkommen abziehen. Die Mieter können das nicht. Der Eigenmietwert soll die Ungleichbehandlung korrigieren, die entsteht, wenn Mieter ihr Kapital nicht in ein Eigenheim, sondern anderweitig investiert haben. Für diese Erträge müssen sie nämlich Steuern zahlen. Die letzte Liegenschaftsschätzung selbst bewohnter Immobilien führte die Baselstädtische Steuerverwaltung im Jahr 2001 durch. Nun steht nach Finanzkrise und Immobilienwertsteigerungen eine Neubewertung an, die ab 2017 gelten soll.
Es gibt drei Gründe, warum der Eigenmietwert keinen Mehrwert liefert: Erstens gilt er als Vermögenszuwachs. In Zeiten von Uber und AirBnB fragt man sich jedoch, wieso nicht Autos, Boote oder Flugzeuge dann ebenfalls nicht als Vermögenszuwachs besteuert werden.
Zweitens wirkt die Kombination mit dem Schuldzinsabzug verzerrend: Denn der Eigenmietwert erhöht die Steuer für jene, die ihr Haus abbezahlt haben. Sie können keine Abzüge geltend machen. Schuldenfreie Bürger werden bestraft, während die Schuldzinsabzüge für selbst genutztes Wohneigentum Anreize zu einer höheren Verschuldung bieten. Schliesslich sind die Abzüge häufig höher als der Eigenmietwert. Staatlich subventioniertes Schuldenmachen? Nicht erst seit Griechenland ein Anachronismus.
Eine Verzerrung bildet auch die ungleiche steuerliche Behandlung von Wertpapiererträgen im Verhältnis zu den Schuldzinsen für Leute, die mieten, aber den gleichen Betrag wie ein Eigentümer in einem Immobilienfonds anlegen.
Drittens profitiert der Kanton mit der heutigen Marktlage doppelt, weil die Zinsen seit der letzten Bewertung in 2001 stark gesunken sind. Heute können die Eigentümer deutlich weniger Schuldzinsen abziehen. Damit steigen die Einnahmen des Kantons, übrigens in bisher nicht dokumentiertem Ausmass.
Wirtschaftspolitisch ist der Eigenmietwert also ein Paradebeispiel, wie solche Sonderkonstrukte die eigentlichen steuerpolitischen Ziele verzerren können. Folgt man den Grundsätzen einer möglichst verzerrungsfreien Besteuerung, gehört der Eigenmietwert in seiner heutigen Form konsequenterweise abgeschafft. Er entspricht nicht länger den marktpolitischen Realitäten. Zudem generiert er einen nicht unbeträchtlichen Schätzungsaufwand. Will man das Ziel der Wohneigentumsförderung aufrechterhalten, liesse sich die Steuerschuld alternativ in eine einzige Rate beim Hauskauf umwandeln.
Das Hypothekarzinsniveau war 2010 um rund 1 Prozentpunkt tiefer als das durchschnittliche Zinsniveau der Jahre 2000-2009. Wird ein Haus im Durchschnitt 25 Jahren behalten, beträgt diese einmalige Abgeltung des Eigenmietwertes laut einer Berechnung von Avenir Suisse etwa 15 Prozent des Kaufpreises. Die politischen Kosten, die durch den Widerstand der Betroffenen bei jeder neuen Schätzung des Eigenmietwertes anstehen, entfallen und Kanton wie Eigentümer sind in der Planung nicht länger an die Marktentwicklung gekoppelt. Schliesslich ist auch die Wohneigentumsförderung als politisches Ziel mittlerweile durchaus umstritten.
Last but not least wirken sich weniger Verzerrungen grundsätzlich positiv auf die Wirkung der Einkommenssteuer aus. Bei konsequenter Entzerrung des Steuersystems könnte sogar der Steuersatz sinken... Damit wir uns die Steuern auch morgen noch leisten können!
Juni 2016
Das 8er-Tram und andere Kollateralschaden
Auch wenn es dem lokalen Gewerbe nicht gleich prickelnd erscheint: Für das Wachstumspotenzial der Region ist die Vernetzung über eine Vielfalt von Prozessen und Organen wichtig.Zwei Meldungen der bz schreckten Mitte Juli die Bewohner des Dreiländerecks auf: «Drogenkuriere entdecken den grenzüberschreitenden öV für sich» und «8er-Tram: GA und Halbtax sind im deutschen Abschnitt bald nicht mehr gültig.» Beide Meldungen markieren die negativen Seiten des grenzüberschreitenden Zusammenwachsens. Für die Bürger sind diese kritischen Aspekte immer wichtiger geworden. In der Aussenwirtschaftstheorie werden sie dagegen eher als zumutbare Kollateralschäden der Globalisierung gehandelt. Es ist die Geschichte des europäischen Binnenmarktes im Kleinen: Der Austausch von Waren und Dienstleistungen wird grenzüberschreitend vereinfacht. Grössere Märkte, stärkeres Wachstum. Wir verdienen unser regionales Brot vor allem mit unseren unmittelbaren Nachbarn. Der Handel der Schweiz mit Baden-Württemberg ist etwa gleich gross wie mit den USA.
Auch wenn es dem lokalen Gewerbe nicht gleich prickelnd erscheint: Für das Wachstumspotenzial der Region ist die Vernetzung über eine Vielfalt von Prozessen und Organen wichtig. Deshalb verfolgt die Region Basiliensis ein trinationales Verkehrskonzept für den Oberrhein. Als erster Schritt zu einem zusammenhängenden
S-Bahn-Netz verbindet nun die Tramlinie 8 Kleinhüningen mit Weil. Für die Verlängerung der Tramlinie 3 nach St. Louis wurden im Mai 2016 die ersten Gleise verschweisst.
So weit – so gut. Allerdings ist der aktuelle Tarif-Wirrwarr auf der Linie 8 entstanden, weil die lokalen Tarifverbünde immer noch vorwiegend national funktionieren. Jede Verkehrsleistung umfasst Nutzen und Kosten, die nur teilweise bei denjenigen anfallen, die die Verkehrsleistung in Anspruch nehmen. Einige dieser Kosten, wie etwa die Verlängerung des Schienennetzes, werden durch die Gesellschaft finanziert. Die Folge sind national unterschiedliche Tarifsysteme. Kooperieren die entsprechenden Anbieter grenzüberschreitend, müssen die Verbünde sich gegenseitig finanziell kompensieren. So geschehen zwischen den Basler Verkehrsbetrieben, dem Kanton und dem Regio-Verkehrsverbund Lörrach. Dabei hat die BVB bemerkt, dass die Nutzung des Tram 8 durch helvetische Generalabonnenten höher war als ursprünglich geschätzt. Nun werden höhere Kompensationszahlungen nach Lörrach fällig – will heissen: eine satte Tariferhöhung für die Nutzer. GA und Halbtax gelten bald nur noch auf Schweizer Territorium. Eine Fehlentwicklung beim Versuch, Grenzen abzubauen, ebenso die Tatsache, dass Drogenkuriere den öV vermehrt nutzen, um Drogen zu schmuggeln.
Die beiden Fälle dokumentieren, warum es im Falle der EU nicht beim einfachen Freihandel zwischen Regierungen blieb. Denn grenzüberschreitende Prozesse sind auf Institutionen und Organe mit grenzüberschreitenden Kompetenzen angewiesen, die auch die Kehrseite der Entgrenzung regeln können. Denn aussenwirtschaftliche Integrationserfolge werden immer mehr an den gesellschaftlichen Anforderungen gemessen und diese definieren sich in unserer komplexen Welt immer öfter grenzüberschreitend.
Juli 2016
Ein Liestaler schreibt Geschichte – Schreiben wir doch mit!
Von den Bewohnern dieser Region unbemerkt, schreibt ein gebürtiger Liestaler derzeit Geschichte. Urs Hölzle ist Informatiker und ein helvetischer Exporterfolg. Zuerst wanderte er an die ETH, dann nach Stanford und an die University of California aus, um der achte Angestellte von Google zu werden. Heute ist er mit 52 Jahren der drittälteste Mitarbeiter mit deutlich mehr Kollegen. Er hat sich dafür eingesetzt, dass Google seinen zweitgrössten Standort der Welt in der Schweiz aufbaut – in Zürich. Mit Cloud-Computing will Hölze in Zukunft mehr Geld verdienen als mit dem Anzeigengeschäft, das Google mächtig gemacht hat.Der digitale Wandel verändert die Schweiz. Neu kann ohne grosse Fixkosten oder Vorleistungen produziert werden, die Grenzkosten für den Unterhalt eines Produktes, wie einer Netzplatzform à la Youtube tendieren gegen Null. Es ist das Gegenteil der finanziellen Vorleistungen, die die Pharma für ein marktfähiges Produkt erbringen muss. Dessen Vermarktung kann jedoch mit E-Health verbessert werden. Jederzeit können Produkte oder Technologien erfunden werden, die Markt und Wettbewerbsbedingungen auf den Kopf stellen. Erfolg und Misserfolg lagen noch nie so nah beieinander.
Arbeitnehmer werden zunehmend selbstständig, Konsumenten zu Anbietern. Die Sharing Economy hilft Kostensparen und dient als Geschäftsgrundlage. Passé ist die Abfolge von Ausbildung, Beruf, Rente. Sie wird genauso zu einem Patchworkgebilde, wie Wertschöpfungsketten zu Kristallen. Nur wenige Kinder, die heute in die Schule gehen, werden Urs Hölzles. Aber eine Mehrheit lernt für Berufe, die es in Zukunft nicht mehr geben wird. Statt des Musikunterrichts sollte morgen Programmieren geübt werden, der ITler der Zukunft heisst Data Scientist, Vokabelpauken übernehmen intelligente Maschinen. Wichtiger als heimische Pflanzenkunde werden Biotechnologie und effektives Brainstormen im Team. Denn die humanoiden Sozialkompetenzen rücken in einer kreativitätsbasierten Niedrig-Grenzkosten-Ökonomie in den Vordergrund, sind sie doch zusammen mit Empathie das Wichtigste, was uns von intelligenten Maschinen unterscheiden wird.
Basel ist eine innovationserfahrene Region, die Vernetzung zwischen Forschung und Wirtschaft funktioniert. Aber weil digitaler Wandel keine föderalen Grenzen kennt, besteht auch noch wirtschaftspolitisches Gestaltungspotenzial. So könnte die Verwaltung der beiden Halbkantone durch eine übergreifende E-Governance-Strategie entlastet werden. Dafür braucht es keine politische Fusion. Es reicht nicht, wenn allein die Basel-Städter 2019 erstmals alle elektronisch stimmen können. Die Esten können dies bereits seit 2005. Nicht nur der Bund, sondern auch die Kantone sind Innovationstreiber. Passepartout sollte deshalb auch nicht länger für ein regionales Fremdsprachen-Sonderkonzept stehen, sondern das Motto für die Schweizer Bildungslandschaft im wörtlichen Sinne sein. Vielleicht kommt der nächste Urs Hölzle dann nicht nur aus der Region, sondern er bleibt auch hier?
August 2016
Umverteilung geht auch anders
Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf vertrat im Ständerat die Unternehmenssteuerreform III. Die Vorlage hat zum Ziel, jene Unternehmen in der Schweiz zu halten, die ihre kantonalen Steuerprivilegien verlieren. Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf vertrat im Ständerat die Unternehmenssteuerreform III. Die Vorlage hat zum Ziel, jene Unternehmen in der Schweiz zu halten, die ihre kantonalen Steuerprivilegien verlieren.Für den verstorbenen niederländischen Ökonom Jan Tinbergen sollte eine Regierung ein wirtschaftspolitisches Ziel nie mit verschiedenen Instrumenten gleichzeitig verfolgen. Die Realität sieht anders aus: Hier dominieren immer komplexere Paketlösungen, weil sie sich in der direkten Demokratie leichter verteidigen lassen. Erstens kann die Regierung die Wünsche der verschiedenen Gesetzgebenden besser auffangen, ohne gleich die Gesamtreform zu gefährden. Zweitens lässt sich manches Detail gut verstecken und man hat nur für einen Urnengang Aufwand.
Die Unternehmenssteuerreform III geht dieser Tage als ebensolches Paket in die Vernehmlassung. Denn die Steuerpolitik ist nicht nur das mächtigste Instrument, um die Standortattraktivität zu beeinflussen, sie will auch verteidigt sein. Das Ziel: Die Belastung für die wertschöpfungsstarken Unternehmen vor Ort soll nicht steigen. Der Stimmbürger soll günstig gestimmt werden, indem man unter anderem die jährlich steigenden Krankenkassenprämien durch zehn jährlich «wiederkehrende» Millionen abmildert.
Die Berechnungsgrundlage für Prämienverbilligungen sind «bescheidene» Einkommen. Die Frage, welche Einkommensverhältnisse Prämienverbilligungen rechtfertigen, legt jeder Kanton für sich fest. Der Thurgau oder Luzern gewähren sogar dem oberen Mittelstand Verbilligungen. In Basel betrugen sie im Jahr 2015 185,4 Millionen Franken, rund 8 Prozent mehr als in 2014. Nutzniesser war ein Viertel der Einwohner. Unverbilligt würden die Prämien durchschnittlich ein Fünftel ihres verfügbaren Einkommens wegfressen.
Nun werden zwei neue Einkommensstufen geschaffen, die zum Bezug von Prämienverbilligungen berechtigen. Die Bezugsgrenze für ein Ehepaar mit zwei Kindern wird so von 89 000 Franken auf 93 000 Franken und für Einzelpersonen von 44 375 Franken auf 46 875 Franken erhöht. Damit wird der untere Mittelstand stärker als bis anhin finanziell entlastet. Zudem dienen die Mittel als zusätzliche Prämienverbilligung für Personen, die freiwillig in ein HMO- oder Managed-Care-Versicherungsmodell wechseln.
Frei nach Tinbergen wird also sozialer Ausgleich mit einem Lenkungsinstrument verbunden, um steuerliche Anreize für Unternehmen realisieren zu können. Ökonomisch gesehen tückisch, vor allem langfristig: Erstens werden die Gesundheitskosten immer weniger durch die Versicherten selbst, sondern über die Allgemeinheit finanziert. Zweitens verursacht die Verbilligung, dass die Kopfprämien zunehmend einkommensabhängig werden. Personen mit geringem Gesundheitsrisiko und hohem Einkommen zahlen also unter Umständen mehr, solche mit hohem Risiko und niedrigem Einkommen fast gar nichts. Die CVP Basel-Stadt begründet so ihre aktuelle Initiative. So verschwindet das Versicherungsprinzip hinter der Umverteilung: Viele Haushalte erhalten auf diese Weise einen bedeutenden Teil der bezahlten Steuern wieder zurück. Prämienverbilligungen und Steuern gleichzeitig zu senken, wäre vielleicht einfacher – aber politisch nicht gleich symbolträchtig ...
September 2016
Sparen muss man sich leisten können
Die Steuereinnahmen der Baselbieter Gemeinden werden unter der Unternehmenssteuerreform leiden.International tätige Spezialgesellschaften finanzieren einen wesentlichen Teil unseres Wohlstands. Sie können jederzeit in ein anderes OECD-Land umziehen, das weniger hohe Wohlfahrtsstaats- und Infrastrukturkosten hat und daher auch niedrigere Gewinnsteuern anbieten kann. Die Schweiz ist auf wertschöpfungsstarke Konzerne wie Novartis, Roche etc. angewiesen. Nicht zuletzt als forschende Firmen bringen sie Erwerb für 24 000 Unternehmen in der Schweiz, finanzieren rund die Hälfte der Steuereinnahmen des Bundes und bieten 150 000 Arbeitsplätze für die Bevölkerung. Im Zeitalter supranationaler Organisationen ziehen die EU und die OECD die Grenzen für den Steuerwettbewerb von Standorten. So viel zur normativen Kraft des Faktischen.
Nach der Reform ist vor der Reform: Bei der Umsetzung der Unternehmenssteuereform III gilt es zu verhindern, dass wir auf 4 bis 5 Milliarden Steuereinnahmen verzichten müssen. Der Bund steht nicht allein vor dem Problem, wie er etwa die 1,3 Milliarden Franken, mit denen er sich die Unterstützung der Kantone erkauft hat, kompensieren soll. Auch bei den Kantonen treffen Einnahmenausfälle auf eine Ausgabenstruktur, die grösstenteils gebunden ist. Das heisst, die Finanzierung der Ausgaben ist gesetzlich vordefiniert und kann nur über eine neue Gesetzesgrundlage verändert werden. Mit anderen Worten: langwierige Verhandlungen und potenzielle Referenden. In Baselland sind knapp 60 Prozent des konsolidierten Gesamtaufwandes solche sogenannte Transferleistungen. Ihr rapider Anstieg seit 2012 geht hauptsächlich auf die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen zurück. Die Alterung der Gesellschaft wird diese Entwicklung fortsetzen. Sparen muss man sich also leisten können.
Wir wissen noch wenig über die zukünftige Finanzierungerfordernisse der Unternehmenssteuerreform III: Sie werden davon abhängen, wie sich die Wirtschaft global entwickelt, wie die Unternehmen auf die Einführung reagieren und wie sich die endgültigen Steuerregime der Kantone sich voneinander unterscheiden werden. Klar ist bereits jetzt: Die Bewohner des Baselbiets werden nicht wie in Basel-Stadt mit steuerpolitischem Entgegenkommen des Kantons rechnen können. Dessen Finanzhaushalt lässt das nicht zu. Mitnahmeeffekte für die KMU aus der allgemeinen Gewinnsteuersenkung müssen reichen.
86 Baselbieter Gemeinden müssen allerdings mit Mindereinnahmen von 30 Millionen Franken ab 2024 rechnen – vier Prozent ihres gesamten Steuerertrags. Gemäss dem Liestaler Stadtpräsidenten Lukas Ott treffen die Sparvorgaben in der Kantonshauptstadt auf nicht weniger als 85 Prozent gebundene Ausgaben, von Bund und Kanton vorgegeben. Die Ausgabenstruktur lässt weder Handlungsspielraum, noch lässt sie sich kurzfristig anpassen. Wird keine entlastende Aufgabenteilung zwischen Kanton und Gemeinden gefunden, dann werden die Bürger zu einem erheblichen Teil für die steuerliche Standortattraktivität des Baselbiets aufkommen müssen – über Steuererhöhungen. Aber ist ja das letzte Wort nicht gesprochen, denn nach der Reform vor der Reform.
Oktober 2016
"It's the economy stupid" über die Wirksamkeit breiter Allianzen
IT’S THE ECONOMY, STUPID –Über die Wirksamkeit breiter AllianzenAm 27. November entscheidet das Baselbieter Stimmvolk über die Energieabgabe, die den Verbrauch von Öl und Gas um maximal 0,5 Rappen pro Kilowattstunde verteuert. Sie finanziert die Aufstockung und die Ausdehnung des kantonalen Förderpakets für erneuerbare Energien. Die Förderung wird neu auf Gewerbe und Industrie ausgedehnt. Interessant ist, dass sie von einer breiten Allianz getragen wird, vom Hauseigentümerverband bis zur Wirtschaftskammer und fast allen Parteien.
Warum so viel Einigkeit? Wirtschaftspolitik besteht aus allen Massnahmen, mit denen der Staat gestaltend in die Wirtschaft eingreift, um gesellschaftliche Ziele zu erreichen. Dazu gehören hoher Beschäftigungsstand, stabiles Preisniveau, aussenwirtschaftliches Gleichgewicht, angemessenes Wirtschaftswachstum, gerechte Einkommensverteilung und Umweltschutz. Weil die Ziele nur schwer vereinbar sind, drehen sich fast alle parteipolitischen Auseinandersetzungen um ihre Gewichtung. Der Bürger verliert da schon mal den Überblick, wo seine Partei gerade steht und warum.
Die Baselbieter Energieabgabe ist ein Resultat der parteipolitischen Annäherung im Zielkonflikt zwischen Klima- und Umweltschutz und dem Wirtschaftswachstum. Baselland zielt mit seiner Förderpolitik auf höhere Energieeffizienz, aber auch auf Frühstarter-Vorteile: Je schneller die Wirtschaft finanzielle Anreize zur Anwendung erneuerbarer Energien bekommt, desto eher wird sie investieren und kann ihren technologischen Erfahrungsvorsprung auf dem Markt nutzen. Umweltpolitik kann also Wirtschaftswachstum fördern, umgekehrt braucht Wirtschaftswachstum eine intakte Umwelt.
Das Baselbieter Stimmvolk gewichtet das Ziel ebenfalls hoch. Es will den Anteil erneuerbarer Energien bis 2030 auf 40 Prozent steigern. Ordnungspolitisch ist eine Abgabe auf Öl und Gas ein gutes Mittel, um rasch ans Ziel zu kommen – und liberaler als Auflagen oder Verbote. Ökonomisch besteht vor allem das Risiko, dass sie kompromissbedingt zu niedrig angesetzt wurde, sodass die Lenkung verpufft. Ist sie zu hoch, belastet sie die Haushalte zu stark. Weiter sollte die Energieabgabe für alle Steuerzahler gleich gelten, zeitlich befristet sein und keine Umgehung oder hohe Abwicklungskosten auslösen.
Die Regelung für Unternehmen, von der Abgabe ausgenommen zu werden, wenn sie eine Zielvereinbarung mit dem Kanton eingehen, ist administrativ schwierig, setzt aber die Gleichbehandlung durch. Die Abgabe ist befristet und ihre Abwicklung wird unter dem wachsamen Auge des Souveräns ausgeschrieben. Den Ölverbrauch selbst zu deklarieren, ist riskant. Wir könnten betrügen. Das Potenzial unserer Eigenverantwortung zu nutzen, ist dennoch richtig. In der Bilanz ist das ein mutiges und finanzierbares Stück Realpolitik, das den Strukturwandel nutzt, statt ihn zu verpassen.
November 2016
Willkommen in der Uber-Economy - Wie ein Fahrdienst die Regulierungsketten sprengt
Uber stellt unsere Dienstleistungswelt auf den Kopf. Die Firma vermittelt als Internetplattform Beförderungsmöglichkeiten, ohne selbst Taxis zu besitzen. Uber steht für das Internet der Dinge. Kaum noch eine Diskussion über die regulatorische Reichweite des Staates, die nicht bei Uber beginnt oder bei Uber aufhört. Längst hat die kalifornische Firma in den Charts der Diskussionsthemen den Status von Europa erreicht.Denn an Uber macht sich ein Regulierungsproblem fest. Wie weit soll das Wahlrecht des Kunden geschützt werden – wieweit das Taxigewerbe und dessen Arbeitnehmer? In Basel hängt das Recht zur Personenbeförderung von bestimmten Kriterien ab. Die Kriterien hat der Kanton festgelegt, bei deren Kontrolle hat er nun anhand von Uber-Pop Präzedenzfälle geschaffen. Fahrern und Kunden wurde die Weiterfahrt verboten, es hagelte saftige Bussen. Es gibt in Basel-Stadt nicht weniger als 27 laufende Verfahren. Gleichzeitig gelten für Taxifahrer seit 2015 strengere Auflagen. Sie müssen ihre Bewilligung alle fünf Jahre erneuern und einen guten Leumund vorweisen. Die Fahrzeuge müssen ein GPS-Gerät aufweisen. Grund: Die Sicherheit der Fahrgäste. Bei Uber haben sie die Geräte nicht.
Kaum eine Dienstleistung ist so stark reguliert wie das Taxiwesen. Aber, der Ständerat hat dieser Tage zwei Motionen aus dem Nationalrat zugestimmt. Spezielle Arbeitszeitregelungen und Fahrtenschreiber im Taxigewerbe sollen abgeschafft werden. Dass Uber gern genutzt wird, kann nämlich auch dazu genutzt werden, Regulierungen zu reduzieren. Schliesslich machen kommunale Überregulierungen Uber auch erst attraktiv. So wird in Basel-Stadt gewarnt, wer sich als Arbeitgeber in diesem Gewerbe versuchen will: Wenn Sie vorhaben (...), als im sozialversicherungsrechtlichen Sinne selbstständiger Taxihalter aufzutreten, so nehmen Sie bitte frühzeitig mit der Suva Kontakt auf. Sie werden dort entsprechend beraten.» Arbeitgeberpflichten sind Teil unseres gesellschaftlichen acquis communautaire. Nur, Uber vermittelt Selbstständige, die diese Art sozialer Sicherung vielleicht bewusst nicht wollen. Vielleicht aber fallen diese «neuen Selbstständigen» auch in die Maschen des sozialen Netzes, weil sie Uber nicht ernährt.
Und der Kunde? Der nimmt vielleicht ohnehin Taxis, weil die Fahrer geschult sind, Arbeitsverträge haben und die Fahrzeuge gewartet werden. Nicht jeder will bei jedermann ins Auto sitzen. Fest steht: Der Gotthard-Durchbruch war das Ende der Säumerei. Technologien entwickeln sich schneller, als der Gesetzgeber nachkommt. Aber Uber-Pop zu verbieten hilft nicht. Und so steht der Gesetzgeber immer wieder neu vor der Frage, ab wann die soziale Sicherung zum Pseudoschutz für Branchen und Berufe wird, die dadurch erst richtig preislich unattraktiv werden. Lassen wir doch die Kunden entscheiden, ohne Geld in die Fahndung nach Uber-Fahrern zu stecken. Das Thema erreicht so oder so schon die nächste Geländekammer. Bald wird Uber nämlich fahrerlos transportieren.
Dezember 2016